Weitermachen – Nathalie Pohl schwimmt am Limit

In zehn Stunden verbringen viele von uns einen ganzen Arbeitstag, kaufen danach noch eine Kleinigkeit ein und kochen – oder treffen sich zum Essen mit Freunden und plaudern ein ­wenig. Nathalie Pohl durchschwimmt die Tsugaru-Straße in Japan (10:09 h, 20 Kilometer, erste deutsche Schwimmerin und schnellste Europäerin, August 2019). Die Strecke ist eine der legendären „Oceans Seven“ – die sieben härtesten Freiwasser-Strecken, verteilt auf der ganzen Welt. Und Nathalies vierte Station auf dem Weg zu dieser bedeutenden Serie.

nathaliepohl schwimmendBislang gibt es 17 Menschen, die alle sieben Strecken geschwommen sind. Die Straße von Gibraltar (16 Kilometer, 02:53h April 2016, Weltrekord der Frauen), den Ärmelkanal (34 Kilometer, 11:10h, Oktober 2016, deutscher Rekord), und den Catalina-Channel (34 Kilometer, 09:09:35 h, Juni 2017) hat Nathalie ebenfalls bewältigt – auf der Liste fehlen jetzt nur noch der Kaiwi-Kanal in Hawaii, der Nordkanal zwischen Irland und Schottland und die Cook­straße in Neuseeland. „Die steht im Februar 2020 auf meinem Programm“, verrät die 25-jährige Marburgerin. 

Sie schwimmt seit ihrem 5. Lebensjahr im Verein, hat seit 2003 an unzähligen ­Becken-Wettkämpfen erfolgreich teilgenommen – und dann fiel ihr mit 17 Jahren ein Buch von Lynne Cox in die Hände, die den Ärmelkanal durchschwommen hat. „Ich fand das wahnsinnig beeindruckend und brannte darauf, es auch zu probieren. Ich habe meinem damals noch recht neuen Trainer davon erzählt. Wir haben mein komplettes Training umgestellt und sind Anfang April nach Mallorca gefahren. Nach dem Schwimmen im 16 Grad kalten Wasser war mein erster Gedanke ,das ist nix für mich‘, ich wollte alles abbrechen. Am nächsten Tag habe ich es mir noch einmal überlegt“, verrät die Studentin. Eine gute Entscheidung – und eine bezeichnende. Denn sich selbst zu überwinden, gehört seitdem zu ihrem notwendigen Rüstzeug. Der Hunger nach Herausforderung treibt sie an. „Es war mein Ziel, den Ärmelkanal zu schwimmen. Als ich das nach dem zweiten Versuch auch geschafft habe, war für mich klar, dass es noch nicht vorbei ist. Also habe ich mir das nächste Ziel gesucht und bin zwangsläufig bei den Oceans Seven gelandet.“

So kam Nathalie auch in Kontakt mit Adam Walker. Der Brite ist einer der wenigen Oceans-Seven-Schwimmer und steht Nathalie als Mental-Coach zur Seite. Denn um bis zu 12 Stunden am Stück zu schwimmen, muss nicht nur der Körper in absoluter Bestform sein: „Irgendwann ist die mentale Herausforderung die viel größere. Weiter­zuschwimmen, obwohl alles schmerzt, und man jeden Moment aufs Boot gehen könnte, aufgeben könnte. Das ist der eigentliche Kampf. Seine Grenze zu erreichen – und zu überwinden. Adam kennt das genau, er hilft mir im Vorfeld und während des Schwimmens, Motivation zu finden.“

Er ist einer der wenigen, die Nathalie bei ihren großen Herausforderungen begleiten. Er sitzt gemeinsam mit der Crew, Nathalies Vater und ihrem Trainer auf dem Begleitboot. Neben ihr fährt noch ein Kajak, das mit dem sogenannten Shark Shield zum Schutz vor Hai-Angriffen ausgerüstet ist. „Ich kann meine Begleiter während des Schwimmens ja nicht hören, deswegen halten sie ab und zu Schilder zur Motivation hoch. Alle 30 Minuten ist es erlaubt, ein energiereiches Getränk oder Nahrung zu sich zu ­nehmen. Das sind die einzigen Anhaltspunkte, die ich zur zeitlichen Orientierung habe.“

nathaliepohl pokalAber was geht einem in dieser langen Zeit durch den Kopf? ­Allein mit sich und dem Wasser? „Eigentlich gar nicht so viel, wie Außenstehende vielleicht denken. Ich versuche, möglichst konzentriert zu sein, eine Art Trance zu erreichen. Manchmal zähle ich einfach meine Armzüge. Wenn mir zum Beispiel die Kälte zu schaffen macht, sage ich mir 50 Mal selbst, das ­Wasser sei warm – irgendwann glaubt es der Organismus. Es ist schwer zu beschreiben, was nach zehn Stunden mit dem Körper passiert – der ist schon am absoluten Limit. Dann ist es nur noch eine Frage der mentalen Stärke, ob man es auf die andere Seite schafft oder nicht.“

Und manchmal passiert auch einfach etwas sehr Schönes: „In Neuseeland haben mich zwei Stunden lang Delphine begleitet. Sie haben sogar während der Trinkpausen auf mich gewartet, das war unvergleichlich. Und in L.A. war das Wasser voll von fluoreszierenden Algen, die bei jedem Eintauchen leuchteten“. 

Aber es gibt auch sehr kritische Situationen. Bei ihrem ­ersten Versuch im Jahr 2015, den Ärmelkanal zu durchqueren, musste ihr Vater sie schließlich aus dem Wasser holen. „Der Schwimmer selbst kann irgendwann nicht mehr entscheiden, ob er abbrechen oder weitermachen sollte.“ Umso wichtiger ist es, die richtigen Menschen bei sich zu haben. Nathalie ­hatte bei diesem Versuch viel Salzwasser geschluckt, schwamm zu weit hinten am Begleitboot und atmete die Diesel-Abgase ein. Ihre Lungen waren voller Wasser, sie musste zwei Tage im Krankenhaus bleiben. „Das war das Schlimmste, das ich beim Schwimmen jemals erlebt habe.“

Und auch danach war es wieder ihr Wille, weiterzumachen. Im zweiten Anlauf schaffte sie den Ärmelkanal. „Früher habe ich nicht gerne über Niederlagen gesprochen. Heute ist das anders – ich weiß, dass nur der etwas Schaffen kann, der es ausprobiert. Das Scheitern gehört einfach dazu.“ 

Und doch ist es nur ein sehr kleiner Teil ihrer Geschichte: das Scheitern. Eher eine Chance, etwas zu lernen und dann besser zu machen. Immer weiterzumachen – und – die andere Seite zu erreichen.

Von Katharina Stenner
Fotos: Privat, Dr. Günter Körtner, mr//media

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